Dreimal hatte ich bisher das Gefühl, mit einem Satz in der kirchlichen Zukunft zu landen. Das erste Mal, als ich zum Studieren nach Stuttgart kam, vom katholischen Dorf in Ostwestfalen in die plurale Landeshauptstadt. Was die Kirchenbindung, die Ökumene und die Pflege traditioneller Frömmigkeitsformen angeht ein Sprung von 10 Jahren. Locker.

Das zweite Mal war es in einem Urlaub vor vielleicht 20 Jahren, beim Betreten der imposanten, doppeltürmigen Johanniskirche in Magdeburg. Erwartet hatte ich die andächtige Stille einer gotischen Hallenkirche. Statt dessen stand ich im Foyer eines modernen Kongresszentrums mit allem Pipapo, inklusive Gastronomie, Garderobe und Ticketschaltern. Ist das auch die westdeutsche Zukunft, dachte ich damals? Wann? In 30 Jahren?

Für das dritte Mal musste ich weder umziehen noch in den Urlaub fahren. Der Zeitsprung kam durch Corona. Ich würde ihn spontan auf rund 10 Jahre beziffern.

Man könnte zu Recht einwänden: Das ist nur plausibel, wenn man glaubt, dass die Kirche und ihre Musik sich zwangsläufig in eine bestimmte Richtung bewegt hätten. Zugegeben, aber dann wäre das hier immerhin ein Versuch, sich über das eigene Zukunftsbild der Kirche und ihrer Musik Rechenschaft abzulegen und nach einer Perspektive Ausschau zu halten.

Der Gemeindegesang

Das Ohrenfälligste ist vielleicht das Verstummen. Schon vor Corona gab es eine schleichende Erosion des Gemeindegesangs. Das hatte mehrere Gründe: dass überhaupt weniger gesungen wurde, dass die Gottesdienstbesucher seltener kamen und dass sie die Lieder damit seltener einüben konnten, dass sich je nach Zielgruppe unterschiedliche Repertoires herausbildeten (Senioren, Familien, Jugend, Taize-Gruppe, Lobpreisrunde), und dass die Singenden weniger werden, damit weiter auseinander sitzen und dass sie älter werden. Vielleicht wurden auch zu viele verschiedene und unbekannte Lieder auf die Liedpläne gesetzt. An dieser Stelle dürfen wir Kirchenmusiker uns gern kurz einmal an die eigenen Nase fassen.

Man konnte als Organist schon vor Corona in den Kirchenraum lauschen und sich fragen, wie es denn wohl in 10 Jahren klingen würde. Würde dann schon ein Gedackt 8‘ den schütteren Gesang übertönen?

Im März 2020 herrschte jedenfalls von heute auf morgen Stille. Das Rinnsal war vollends versiegt. Mittlerweile hat sich die Situation zwar etwas entspannt. Aber es bleiben Fragen:

  • Muss immer die Orgel von der Empore herabspielen? Was mache ich als Organist*in bei 11 Gottesdienstbesuchern. Singe ich dann nicht lieber unten mit, mit allen musikalischen Möglichkeiten, die sich dann im Wechseln durch Vorsänger und Gemeinde ergeben?
  • Muss es immer ein gemeinsames Lied sein. Eine tätige Teilnahme kann vielleicht auch über aktives Zuhörer erfolgen. Ansgar Wallenhorst fragte schon 2011: „Gibt es vielleicht neue Formen von “Communio” und “mitvollziehender Teilnahme” der Liturgie in einem aktiven oder kontemplativen Hören?“1
  • Sollte es auch in Zukunft mehr reine Zuhörlieder von einem Vorsänger geben? Welche sind das? (Vielleicht besser nicht solche, die die Gemeinde selbst gern und gut singt.) Wie sind solche Lieder zu begleiten, gibt es etwa Zwischenspiele zwischen den Strophen. Wo steht der Vorsänger? Wie ist die Beschallung? Wie ist die Qualität des Gesangs? Welche Rolle werden (bezahlte) Profi-Sänger spielen.
  • Was bedeutet es für die Atmosphäre des Gottesdienstes, wenn am Anfang des Gottesdienstes kein gemeinsames Lied steht. Welche Chancen ergeben sich durch Instrumentalmusik, solistische Vokalmusik, Stille? Wie kann trotzdem ein Gemeinschaftsgefühl entstehen? Ganz praktisch: Wann setzen sich Zelebrant und Gemeinde?
  • Nach vielen mehr oder weniger vergeblichen Versuchen, den Kantorendienst in der Breite zu verankern, hat er durch Corona nun tatsächlich eine Aufwertung erfahren. Wie lässt sich das nutzen oder verspielen?
Leere Kirchen

Nicht ganz so auffällig wie das Verstummen des Gemeindegesangs ist der Rückgang an Gottesdienstteilnehmern. Aber es bleiben tatsächlich Etliche weg: Die sehr Alten etwa, dann die Entwöhnten: Man hat gelernt, dass es auch mal ohne den Kirchgang geht. Vielen ist der Gottesdienst in der jetzigen Form auch schlicht ein Graus. Die Hostien mit der Zange gereicht bekommen von einem vermummten Kommunionhelfer? Da bleiben sie lieber ganz weg. Und dann die Familien: bis heute (Oktober 2020) finden viele Angebote für Kinder und Familien noch nicht wieder statt. Da ist hier und da der Faden abgerissen.

Ist auch das ein Blick in die Zukunft Jedenfalls stellen sich – jenseits von Corona – einige Fragen:

  • Wie kann der Kontakt zu den sehr Alten aufrechterhalten werden, die oft ihr Leben lang in die Kirche gegangen sind? Das Klientel ist auch in den Kirchenchören vertreten.
  • Wie lassen sich Familien über digitale Angebote erreichen. Welche Rolle kann Musik dabei spielen?
  • Vieles in der Kirchenmusik ist von der Volkskirche her gedacht: Sonntagsmesse, Kirchenchor, Orchestermesse, Gemeindegesang, Kirchenbänke und Orgelempore, Liedauswahl usw. Wie sähe also eine Kirchenmusik jenseits der Volkskirche aus?2 Pluraler, mehr auf kleine Gruppen ausgelegt, mehr auf Kasualien ausgerichtet, aufsuchend, missionarisch, kooperativ? Weniger auf die Liturgie ausgerichtet?
Die Chöre

Die kirchlichen Chöre hatten während der Pandemie gegenüber den weltlichen Chören den Vorteil, dass sie bald wieder eine Aufgabe hatten (Kantorendienst, Vierer-Schola, 12er-Ensemble) und dass Kirchräume zum Proben bereitstanden.

Und trotzdem war Corona ein herber Einschnitt, aber eben auch ein Katalysator für bestehende Trends. Die Schrumpfungsprozesse, die vor Corona insbesondere bei den Kirchenchören zu beobachten waren, wurden verstärkt. Es gibt die ersten dauerhaften Abmeldungen vom Kirchenchor, in der Regel von sehr alten Sängerinnen und Sängern. Neben der Sorge vor Ansteckung ist es vor allem das Problem des Hörens angesichts der großen Abstände beim Singen. Jemand der schlecht hört, ist auf seinem Nebensitzer angewiesen. Der ist aber jetzt plötzlich unerreichbar weit weg. Corona hat überdeutlich gemacht, wie alt die meisten Sänger und Sängerinnen in den Kirchenchören sind. Nicht selten gehören 70% oder 90% zur Corona-Risikogruppe.

Aber gleichzeitig war Corona auch eine musikalische, eine sängerische Herausforderung, die Viele angenommen und gemeistert haben. Es haben sich jede Menge kleiner Ensembles formiert, und diese haben oft viel häufiger im Gottesdienst gesungen, als es die Kirchenchöre vor der Corona konnten.

Es gibt nach dieser Pandemie wohl kein Zurück. Welche Perspektiven ergeben sich?

  • Welche Chance steckt in den kleinere Ensembles? Sollte man sie weiterpflegen? Parallel zum großen Chor?
  • Lassen sich für sie weitere Personen gewinnen, die bisher nicht ansprechbar waren? Das wäre eine nicht zu unterschätzende missionarische Qualität von Kirchenmusik.
  • Das Gesellige am Chorsingen wurde während der Pandemie vermisst. Was heißt das für die pastorale Dimension der Kirchenmusik?
  • Welche Differenzierungsmöglichkeiten ergeben sich durch die verschiedenen kleineren Ensembles? Was kann sich daraus für die Differenzierung des Repertoires, die Differenzierung der Leistungsfähigkeit ergeben?
  • Corona brachte viel mehr organisatorisch und musikalische Detailplanung mit sich. Das war mühsam. Aber was hat es Positives bewirkt?
  • Könnten die neuen kleinen Ensembles vielleicht auch Kasualien gestalten (Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen)? Welche Chancen stecken darin?3
Sparen

Seit gut 20 Jahren arbeite ich jetzt in der Kirche. Und genau so lange spricht man vom Sparen und von der bevorstehenden Schrumpfung. Nur stattgefunden hat beides im Großen und Ganzen bisher noch nicht. Auch kirchenmusikalisch waren die letzten beiden Jahrzehnte eher eine Zeit der Expansion.

Das ändert sich jetzt offenbar. Das Schrumpfen der Mitgliederzahlen durch Austritte, der Technologiewandel in der Automobilindustrie und der demographische Wandel haben ohnehin schon einen deutliche Richtung vorgegeben. Das alles wird durch Corona verstärkt, allein der wirtschaftliche Einbruch hat langfristig massive Auswirkungen auf die Kirchensteuermittel. Mit Corona ist eine finanziell kargere Zukunft der Kirchen mit Sicherheit ein gutes Stück näher gerückt.

  • Kirchenmusik hat immer schon über die Kirchengemeinde hinaus gewirkt. Was bedeutet das für das Erschließen weiterer Finanzierungsquellen (Fördervereine, Fundraising)?
  • Welchen Stellenwert haben Kirchenmusiker im Verhältnis zu den pastoralen Mitarbeitern4, und was bedeutet das, wenn das Geld weniger wird?
Digitalisierung

Einen ordentlichen Satz in die Zukunft hat die Kirche auch bei dem Thema Digitalisierung gemacht. Das muss einem nicht in jedem Beispiel behagen, ein Fortschritt ist es aber doch.

Viele Angebot in der Lockdown-Zeit wurden gerade von den Musikern getragen. Es ist absolut erstaunlich, was sich an Möglichkeiten aufgetan hat: Musikalische Videoimpulse, Livestreams von Gottesdiensten und Konzerten, Chorproben per Videokonferenz, Videos oder mp3-Dateien als Übhilfen, Besprechungen oder Treffen per Videokonferenz, Digitalisierung der Chorbibliothek usw.

  • Welche Chancen für die Pastoral, für die Öffentlichkeitsarbeit haben sich durch digitale Angebote eröffnet?
  • Ein Gottesdienst-Video legt offen, wie es um die Feierkultur bestellt ist. Was lässt sich daraus lernen?5
  • Welche Rolle können z.B. Videoimpulse in Zukunft spielen: in den geprägten Zeiten, als Akzente im Kirchenjahr, als Konzerttrailer, als Brücke für Alte, Vielbeschäftigte, Kranke?
  • Was wollen wir eigentlich vermitteln/transportieren/initiieren? Digitalisierung stellt die Frage nach den Inhalten neu.
Individualisierung, „Singularitäten“

Der Lockdown hat viele Menschen auf sich zurückgeworfen und verstärkte damit den Trend zu einer Individualisierung und Privatisierung von Religion. Die digitalen Angebote haben dem Rechnung getragen und diesen Trend gleichzeitig nolens volens verstärkt.

Auch die Arbeit mit einzelnen Kantoren, einer Schola und kleinen Ensembles verstärkt die Entwicklung zu mehr individuellen kirchenmusikalischen Angeboten und zu Angeboten mit Erlebnischarakter („Event“), diesmal auf Seiten der Akteure. An einer Vierer-Schola nehme ich nicht nur teil, weil ich immer schon als Hinterbänkler im Kirchenchor gesungen habe, sondern auch der Herausforderung und des Besonderen wegen. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat dafür den Begriff der „Gesellschaft der Singularitäten“ geprägt6.

  • Sollte Kirchenmusik in Zukunft mehr individuelle Angebote für kleine Gruppen mit verschiedenen Profilen machen?
  • Welche Rolle spielen dabei Projekt-Ensembles.7
  • Ein gemeinsamer Liedplan für alle Gottesdienste des Wochenendes ließ sich während der Pandemie kaum mehr realisieren. Je nach musikalischer Besetzung (welcher Organist, Kantor, Chor, Sänger, Instrumentalist?), nach Tageszeit, Zielgruppe war zu differenzieren. Überhaupt musste genauer geplant werden. Was wäre daraus für die zukünftige Gottesdienstgestaltung zu lernen?
Zum Schluss

Mal ganz abgesehen von den gesundheitlichen Sorgen und den wirtschaftlichen Folgen ist Corona anstrengend, nervig, mühsam. Und von der Krise als Chance zu sprechen, klingt nun wirklich zu abgedroschen. Aber Corona ist eben auch ein Ereignis von existentieller Wucht, ein Weckruf, ein Innovationsmotor. Man könnte auch sagen: ein Einfallstor für den Heiligen Geist. Die Kirchenmusik hat an vielen Stellen gezeigt, dass sie das verstanden hat.

Wie die Kirchenmusik in 10 Jahren tatsächlich aussehen könnte, ist jedenfalls in den letzten wenigen Monaten deutlich klarer geworden.

(Reiner Schulte)

 

1Ansgar Wallenhorst, 10 Fragen auf dem Weg zu einem neuen Volk Gottes, pdf unter http://www.orgelwelten-ratingen.de/die_ziele.php (Abgerufen am 5.10.2020)

2Anregungen dazu in: Christian Lehnert (Hg.), Nach der Volkskirche. Gottesdienste feiern im konfessionslosen Raum (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 30), Evangelische Verlagsanstalt 2017

3Siehe dazu Reiner Schuhenn, Kirche im Fall – Kirchenmusik im Aufwind? Künstlerisch-methodische Anforderungen an angehende Kirchenmusiker angesichts veränderter Gesellschaftsstrukturen, in: Marius Schwemmer, Mehr als nur eine Dienerin der Liturgie. Zur Aufgabe der Kirchenmusik heute, S. 177f

4Weihbischof Dr. Gerhard Schneider sieht eine zunehmende Bedeutung des Kirchenmusikers als pastoralem Mitarbeiter. Dazu: Gerhard Schneider, Kirchenmusiker als pastorale Mitarbeiter, in: in: Marius Schwemmer, Mehr als nur eine Dienerin der Liturgie. Zur Aufgabe der Kirchenmusik heute, S. 127ff

5Christian Orth, Damit ich die Botschaft daran neu lernen kann. Interview zum Gottesdienst-Livestream aus der Fuldaer Michaelskirche, in: Musica sacra, 140 Jahrgang 2020, Nr. 5, S. 242

6Andreas Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017

7Dazu: Joachim Werz, Projektchöre in der Gesellschaft der Singularitäten. Chancen und Herausforderungen für die Kirche und ihre Musik, Herder 2020, S. 157ff